20. Januar 2024

Der Amêijoa-Fado

 Der Gesang der Venus-Vongole

Alles, was ich über Bivalven und Mollusken weiß, habe ich von Joaquim gelernt. Der in Alvor überall bekannte Muschelbauer mit dem ledernen Käppi, dem karierten Flanellhemd über grober Stoffhose, belieferte sein Leben lang Restaurants mit frisch geernteten Schaltieren. Die kamen immer zu einer anderen Uhrzeit an, im Eimer gebracht, sauber geschrubbt und frei von Sandkörnchen innendrin, damit es beim Verzehr nicht zwischen den Zähnen knirschte.
Mal brachte er seine Ausbeute am Vormittag, mal am Nachmittag, manchmal sogar erst, wenn es dämmerte. 
"Das Meer ist mein Chef", sagte Joaquim. "Es ruft mich immer dann zur Arbeit, wenn es sich zurückzieht, und das ist jeden Tag zu einer anderen Uhrzeit."
Joaquim spricht einzig portugiesisch, noch dazu alvorensisch, was sehr speziell ist, in der Bedeutung - und in der Aussprache - im Prinzip unmöglich lernbar. Dass es doch möglich ist, beweist mein langjährig entwickeltes Verständnis für die Sprache der Fischer von Alvor, die gerne einmal jemanden als Tintenfisch beschimpfen, der sich gefälligst von dannen machen soll, weil er das Wasser turfo trübt.
Gemeint ist natürlich die Stimmung, die vermiest werden kann, wenn jemand Unsinn erzählt.
Wenn jemand Santola (Seespinne) genannt wird, Semtola in Alvor ausgesprochen,  ist er oder sie (mit dem gendern nimmt man es nicht so genau) ein dummer Krebs ohne Stirn, also jemand, der anderen Unsinn als der Tintenfisch erzählt.
Und falls du jemanden fragst, wie groß ein Meter ist, dann kriegst du zur Antwort: So groß wie ein kleiner Junge.
Hemdsärmelig sind die Alvorenser alle, die Alvorenserinnen übrigens auch, und wie!
Ihren feinen, ureigenen Humor verpacken sie in Sprachbilder, die meistens mit dem Meer, aber nicht immer zu tun haben, die mit verschluckten Silben und in Maschinengewehrsalvengeschwindigkeit abgefeuert, so manchen Portugiesen von "da droben", womit alles nördlich des Algarve gemeint ist - und speziell Lissabon, mit deren Einwohnern, genannt die Alfacinhas, die Königskinderchen, die Algarve von jeher eine eher gemischte Beziehung verbindet - vor den Kopf stoßen.
Denn die Königskinderchen können ihre Landsleute von "da drunten", also alles was südlich von Lissabon liegt, a) nicht verstehen und b) nicht deuten.
Was regelmäßig und vor allem im Sommer reichlich Verwirrung stiftet, und den Graben zwischen da droben und da drunten noch tiefer zieht.
Der kann gar nicht tief genug sein, schimpft Joaquim. Vor allem im Sommer nicht, vor allem am Ende eines langen Arbeitstages nicht, wo ihn die Königskinderchen zu Dutzenden bei seiner Arbeit in der Lagune beobachten und fotografieren, ungefragt natürlich, und nach seinem wohlverdienten Constantino  (Portugiesische Weinbrandmarke) im Ballonglas serviert.
Immer dann wird Joaquim redselig.
In einem Unendlich Satz ohne Punkt und Komma, werden in Folge, der Premierminister, die Kommunisten, der Schiedsrichter im Spiel Benfica gegen Sporting, (natürlich ist Joaquim, Benficista, was sonst?), seziert, bis er nach einer Selbstgerollten zum Brandy geschmokt, sich trollte.
Die Bestellung der Schaltiere erfolgte auf einen Zettel geschrieben und nachts nach Feierabend unter seiner Haustüre durchgeschoben. Es gab Lagunenherzmuscheln, Venus-Vongole, Miemuscheln, Scheidenmuscheln, alle aus der Ria de Alvor. 
Das sind alles Bivalven, lehrte mich Joaquim. Sie haben zwei Schalen, die sich öffnen und schließen. Drinnen liegt der Kern. 
- Miesmuscheln haben weibliche und männliche Kerne, die mit Bart sind weiblich. Harharhar.
(Verstanden?)
- Die anderen sind, Zwitter. Scheidenmuscheln stehen aufrecht im Sand, zeigt er mit seinem Finger vertikal gestellt. Ihr Kern sieht aus wie das männliche ... harharhar, du weißt schon wie. Da, durch den Kopf, atmen sie. Und bohren sich von unten durch den Sand nach oben ein Loch. Fast so groß wie dein kleiner Finger, menina Catarina.
- Aha.
- Lagunenherzmuscheln bewegen sich im Sand, sobald du obendrauf tanzt, knirscht es überall, und so findest du sie. Mit gespreizten Fingern gräbst du. Schau, so.
(Hand gespreizt zieht imaginär Linien durch die Luft)
- Venus-Vongole, schau, das sind die echten - zeigte er mir und stellte ein Schaltier auf ihrem Schließmuskel auf. 
- Grauschwarz gestreift, im Sommer bis zu 60 g pro Muschel schwer. Amêijoas sind sehr eigen. Sie reden nicht mit jedem, aber mit mir. Dafür muss es leise sein in der Lagune und nicht so laut wie im Sommer, wenn die von da droben...
- Was sagen sie denn zu dir?
- Sie verraten mir, wo sie sind.
- Ach, tatsächlich?
- Ja, Venus-Vongole sind Einzelgängerinnen, sie vergraben sich etwa so tief (zeigt seine Elle) im Watt, zwischen Ebbe und Flut, also dort, wo ich meine Muschelfelder bearbeite. Auch sie holen Luft, wie alle Bivalven, und haben dafür einen Art Schornstein, oben eine winzige Öffnung. Manchmal schlagen da Bläschen, manchmal bewegen sich die Amêijoas, und dann höre ich sie. Sie singen.
- Oh. Bestimmt Fado.
- Sehr witzig, menina Catarina. Den Amêijoa-Fado, ja so kann man es nennen, im Sommer hört es sich glücklich an, der Sand ist warm, die Amêijoa fühlt sich wohl - und singt.
- Und im Winter?
- Da ist es kalt. Da friert es sie. Deswegen bringe ich dir heute keine Muscheln.
- Weil sie frieren.
- Nein, weil sie stumm bleiben.

PS: Amêijoa Muscheln schmecken am besten in Olivenöl mit Knoblauch und frischem Koriander sautiert, und mit Zitronensaft erfrischt. Handverlesen kosten die Venus-Vongole je nach Größe zwischen 35 und 45 Euro das Kilo. Dank Joaquim weiß ich, warum sie das kosten müssen. Bom apetite!